Wie alt wird ein Kirschbaum? Das habe ich mich oft gefragt, wenn ich beim Spaziergang mit dem Hund an einem bestimmten Baum vorbeigekommen bin. Der Baum, den ich meine, ist knorrig, wirkt verwachsen. Menschen haben Äste abgesägt, abgeschlagen, abgebrochen. Der Sturm hat den Zweigen zugesetzt. Die Rinde ist eingeritzt, Kerben hier und da. Dennoch steht er da, so eigentümlich krumm. Aber im August trägt er prachtvolle rote Früchte – in großer Zahl. Fast traubenartig. Der Baum berührt mich. Heute weiß ich, dass Gewächse seiner Art in der Regel 60 bis 80 Jahre alt werden können. Ein Menschenalter. Ich selbst bin fast 60 Jahre alt – und wie dieser Baum habe auch ich viel erlebt. Sturm und Regen, Gewitter, Schnee, doch auch Sonnenschein – und zuletzt diese quälende Dürre.
Aber es war nur zum geringen Teil die Witterung, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Ich habe viel erlebt. Eine Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, eine harte Schulzeit, ich war als „Streber“ verschrien, hatte kaum echte Freunde. Mit der Uni kam Freiheit, danach der berufliche Aufstieg. Eine steile Karriere, der ich später gesundheitlich Tribut zollte. Rückschläge trafen mich, immer wieder. Immer heftiger. Der Tod meiner Eltern. Die Finanzkrise, durch die ich fast meine Firma verloren hätte. Ich hatte weise Freunde, liebende Menschen, insbesondere meine Frau, die mich stützten und trugen und vor dem Schlimmsten bewahrten.
Eins habe ich dennoch erfahren. Aus jeder Krise in meinem Leben bin ich gestärkt hervorgegangen. Ich habe mir eine Art Resilienz zugelegt. Der Begriff, heute in Mode, beschreibt die Anpassungsfähigkeit eines Menschen als Reaktion auf Krisen. Menschen verarbeiten Erlebtes, üben daraufhin neue Verhaltensmuster ein, die sie bei ähnlichen Problemstellungen erneut abrufen. Somit fällt die Bewältigung von Krisen und Problemen leichter – man betritt nicht jedes Mal „Neuland“, wenn man vor einer schwierigen Situation, einer neuen Herausforderung steht. Es liegen bereits Methoden und Lösungsstrategien vor. Und: Fehler, die ich einmal gemacht habe, mache ich kein zweites Mal mehr.
So bin ich stärker geworden – im Laufe meines Lebens. Vor allem innerlich. Ebenso wie der Kirschbaum auf dem Acker – mit Schrammen, Kratzern, großen und kleinen Schäden. Und wie „mein Resilienz-Baum“ als Symbol daheim in Nieder-Olm trage auch ich prachtvolle Früchte – im übertragenen Sinne: Es sind mein Wissen und meine Erfahrung bei der Bewältigung von Krisen, die ich gerne mit anderen Menschen teile.
Vom Udo Foerster
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